Tagungen
Hier finden Sie Berichte zu Tagungen, die wir zum Themenfeld Sterben, Tod und Trauer organisiert haben.
Bericht zur Tagung
STERBLICHKEIT UND ERINNERUNG
Soziale Gedächtnisse am Lebensende
Universität Passau, 11./12. März 2021
Am 11. und 12. März 2021 veranstalteten Thorsten Benkel und Matthias Meitzler (beide Passau) gemeinsam mit Oliver Dimbath (Koblenz) die Online-Tagung „Sterblichkeit und Erinnerung“, welche zugleich als Jahrestagung des Arbeitskreises „Gedächtnis – Erinnern – Vergessen“ der DGS-Sektion Wissenssoziologie fungierte.
Nach der Begrüßung durch die Veranstalter hielt Thorsten Benkel den Eröffnungsvrtrag über Gedächtnispolitik. Institutionen und Rituale des (Nicht-)Erinnerns. Zunächst thematisierte er das Vergessen, welches kein bewusster Akt sei, allerdings oftmals soziale Sanktionen nach sich ziehe. Die Relevanz des individuellen Gedächtnisses zeige, dass Erinnerung mit persönlichen Erfahrungen verknüpft ist. Auch aktives Vergessen, zu dem u.a. die Verdrängung des eigenen Sterbens und das geliebter Mitmenschen gehöre, sei eine soziale Facette von Erinnerung. Ist ein Mensch gestorben, so kann er durch ständiges Erinnern, also durch Gedächtnisrepräsentation, weiterhin sozial präsent bleiben. Auf diese Weise sind die Toten für eine Weile noch im Zugriff der Lebenden.
Im ersten Panel „Abschließen als Vorbereitung des Sterbens“ thematisierte Sarah Peuten (Augsburg) in ihrem Vortrag Würdezentrierte Therapie. Über gelingendes Erinnern am Lebensende die hospizlich-palliativen Ideale des Sterbens. Die Individualisierung wirke sich hier auch auf das Sterben aus. Je mehr Gestaltungsoptionen sich diesbezüglich ergeben, desto weniger werde Sterben schicksalhaft betrachtet und stattdessen symptomkontrolliert „gemacht“. Es sei folglich kein Schicksal, sondern ein „Mach-sal“, bei dem der Patient zum Co-Produzenten seines eigenen Ablebens werde. Im Rahmen von Interviews können Sterbende dazu gebracht werden, sich zu erinnern, wodurch ein wohlwollender Lebensrückblick entsteht. Durch (zu) enge Führungen gehen differente Lebensstile, Wertvorstellungen und Bedeutsamkeiten jedoch verloren, so Peuten. Die würdezentrierte Therapie fungiere als erinnerungsbezogene Selbsttechnik. Sie befriede, harmonisiere, selektiere und helfe dem sich Selbst-Erinnern und dem Erinnert-Werden. Dies sei eine spezifische soziale Gedächtnisordnung.
Melanie Pierburg (Hildesheim) beschäftigte sich in ihrem Vortrag ,Auch ihr erinnert euch.‘ Biografische Repräsentationen in der Hospizausbildung mit Hospizvorbereitungskursen für ehrenamtlich Beschäftigte und der Frage, wie Erinnerung in diesem Kontext als biografische Ressource genutzt wird. Dabei erörterte sie, inwiefern Erinnern und Erinnerungen den Hospizkurs durchziehen und sozial konstituiert sind. Laut Pierburg dienen viele Übungen dazu, eine affirmative Haltung in Sterbesituationen vorzubereiten. Das Erinnern vollziehe sich damit in einer didaktisch gerahmten Kommunikationssituation, welche das biografische Memorieren zum Vermittlungsgegenstand erhebe, der auf die sterbebezogene Interaktion der Begleitung gerichtet sei.
Das zweite Panel war dem Themenfeld „Bestattungs- und Sepulkralkultur“ gewidmet und startete mit Matthias Meitzlers Vortrag Der Friedhof als Gedächtnisraum. Am Beispiel zeitgenössischer Friedhöfe thematisierte Meitzler den Zusammenhang von postmortaler Individualisierung, Sterblichkeit und Erinnerung. Friedhöfe, so Meitzler, geben dem sozialen Gedächtnis einen begehbaren Raum, sie sind somit nicht allein Lagerstätten für tote Körper, sondern erfüllen noch weitere Funktionen, u.a. als Orte des Abschieds, ritueller Handlungen sowie der parasozialen Zuwendung zu den Verstorbenen. Unter Berufung auf empirische Forschungsarbeit (mit über 150 qualitative Interviews im Bestattungskontext und mehr als 1.200 analysierten Friedhöfen) veranschaulichte Meitzler, dass der Friedhof immer mehr zum Schauplatz von Lebensreferenzen werde und sprach in diesem Zusammenhang von postexistenzieller Existenzbastelei und postmortaler Imagekonstruktion. Gerade unter neueren Gräbern fänden sich zunehmend Verweise auf Freizeitkontexte, auf populärkulturelle Inhalte oder Alltagsartefakte, die mit den Verstorbenen assoziiert werden. Ferner ging Meitzler auf das von Thorsten Benkel entwickelte Konzept der zwei Körper der Toten ein: Während der erste Körper für die Leiche stehe, die aus dem sozialen Umfeld ausgegliedert werde, um letztlich im Grab zu verschwinden, sei der zweite Körper als Repräsentant der lebendigen Vergangenheit der Verstorbenen für die (Erinnerungen der) Hinterbliebenen weiterhin sozial relevant.
Leonie Schmickler thematisierte in ihrem Vortrag Materielle (Un-)Vergänglichkeit. Die symbolische Umdeutung von Artefakten im Trauerprozess den sogenannten ‚Erinnerungsdiamanten‘, welcher aus der Kremationsasche von Verstorbenen hergestellt wird. Aufgrund der in Deutschland geltenden Friedhofspflicht erfolgt die Produktion in der Schweiz, jedoch sind viele deutsche Bürger Kunden des Anbieters. Durch telefonische Interviews und Feldaufenthalte vor Ort wurde deutlich, dass die Diamanten für viele Hinterbliebene nicht nur ein Schmuckstück darstellen, sondern auch eine Art transformierte Fortexistenz der verstorbenen Person bedeuten. Diese bleibe über den Diamanten adressier- und berührbar und erhalte zugleich einen Symbolwert, der nicht lediglich im materiellen Wert des Edelsteins aufgehe. Insofern verwundere es nicht, wenn der Verlust des Aschediamanten mit einem erneuten Verlust des Verstorbenen gleichgesetzt werde.
Das dritte Panel zu „Formen des Gedenkens“ wurde von Jan Ferdinand (Berlin) mit seinem Vortrag ,Die Toten leben in uns, wir mit den Toten weiter‘. Zum Übergang vom ,kommunikativen‘ ins ,kulturelle Gedächtnis‘ bei Jan Assmann eingeleitet. Im Fokus stand die Charakterisierung von Jan Assmanns Denkweise und seines Begriffs des kulturellen Gedächtnisses. Assmann mache geltend, so Ferdinand, dass der Rekonstruktionscharakter von Erinnerungen nicht alles sein könne: Auschwitz beispielsweise sei schwer zu erinnern, aber unmöglich zu vergessen. Ferdinand verband Assmann ferner mit der Theorie von Maurice Halbwachs und thematisierte das mythische Element in Assmanns Ausführungen, um danach eine Charakterisierung des Assmann‘schen kulturellen Gedächtnisses als religiöses Gedächtnis vorzulegen. Die Gesellschaft sei, so Ferdinand, nichts anderes als ein Gedächtnis, das die längste Zeit der Menschheitsgeschichte genau genommen ein religiöses Gedächtnis war.
In ihrem Vortrag Militärisches Totengedenken. Gedächtnissoziologische Überlegungen am Beispiel der Bundeswehr befasste sich Nina Leonhard (Potsdam) mit dem zeitgenössischen Erinnern an tote Soldaten. Durch den Wandel der politischen Kultur des Krieges in Deutschland werde eine neue Art des Erinnerns an deutsche Soldaten praktiziert, die bei Erfüllung ihrer Dienstpflicht ums Leben gekommen sind. Neue Formen des Gedenkens (wie der ‚Wald der Erinnerung‘) dienen hierfür als Beispiele. Das modernisierte Erinnern brauche, so Leonhard, gebe eine Antwort auf die Frage: Wofür haben diese Soldaten ihr Leben gelassen, wofür haben sie ihr Opfer geleistet? Zum einen werde die funktionale Differenzierung ersichtlich, zum anderen entwickele sich eine Privatisierung des Soldatentums. Als Problem stellte Leonhard fest, dass das Gedenken an den politischen Auftrag in die Erinnerung an eine militärische Funktion umgemünzt werde, welche aber in politischer Hinsicht nur bedingt legitimierbar ist.
Die daran anschließende Präsentation von Ekkehard Coenen (Weimar) zu Infrastrukturen des Erinnerns und Mitsein mit den Getöteten. Wissenssoziologische Beobachtungen am Beispiel der Gedenkstätte Buchenwald drehte sich um das gewaltsame Verkürzen der Lebenszeit von KZ-Häftlingen. Das Mitsein mit den Getöteten werde durch die verschiedenen Objektivierungen des Tötens, wie z.B. Genickschussanlagen und Leichenkellern, konstituiert und sei im hohen Maße an ein Gewaltwissen und die damit zusammenhängenden kommunikativen Handlungen verknüpft. Heute können Interessensgruppen durch Eingriffe in die Infrastrukturen der Gedenkstätte auch das Mitsein mit den Opfern prägen. Infrastrukturen bilden somit die Basis, durch die das kommunikative Gedächtnis geprägt werden könne.
Im letzten Vortrag des dritten Panels präsentierte Carsten Heinze (Koblenz) Das Spannungsverhältnis zwischen Orten des Todes und Überlebend(den) in dokumentarischen Filmen. Bürgerkrieg und Genozide im 20. Jahrhundert. Er beschrieb den dokumentarischen Film als Erinnerungsmedium, welcher in der Lage sei, Zeitabläufe bewahren und festhalten zu können. Dokumentarische Filme seien gekennzeichnet von Aufklärung, Wissensvermittlung und eine Nicht-Fiktionalität des Materials. Als Erinnerungsmedium dienen sie dank Aufzeichnung und Speicherung und durch Interviews mit Zeitzeugen. Der dokumentarische Film, so Heinze, fungiere mithin als Spiegel von Ereignissen, die wir in der Realität aufgrund ihrer Grausamkeit nicht anschauen können bzw. wollen. Die Frage sei somit zum einen, wie man mit Bildern des Todes/des Sterbens in Dokumentarfilmen umgehen solle und zum anderen, welche Bilder auf welche Weise gezeigt werden.
Den zweiten Veranstaltungstag begann Nico Wettmann (Gießen) mit der Eröffnung des vierten Panels „Anfang und kein Ende“ und seiner Präsentation zu Erinnerung, Phantasmen, Vergessen. Fehl- und Totgeburten aus zeitsoziologischer Perspektive. Durch die Visualisierung des Ungeborenen in der Ultraschallaufnahme werde der Status der gegenwärtigen Identität gefestigt. Diese Sichtbarkeit führe, so Wettmann, zu einer antizipativen Aufladung der Schwangerschaft. Das Ungeborene sei diesseits von Sein und Werden. Als zeitliche Bezugsweisen nennt Wettmann die elterliche Imagination, Passivitäten von Schwangerschaften, Vergegenwärtigung des Ungeborenen, Kultivierung offener Zukünfte und Brüche in Form von Schwangerschaftsverlusten. Die Wahrnehmung eines solchen Verlustes knüpfe auf spezifische Weise an die Elternbiografie an und führe diese fort.
Oliver Dimbath beschäftigte sich in seinem Vortrag zur Unsterblichkeit mit Formen des kollektiven und außeralltäglichen Erinnerns an Personen und mit dem Streben, im Angedenken der Weiterlebenden zu überdauern. Die Unsterblichkeit der Seele sei insofern hochrelevant, als man sie als Erinnerungsmedium begreifen könne. Der Unsterblichkeitsglaube habe zwei Wurzeln: Erstens den auf Traum-Erinnerungen begründeten Aberglauben an ein Weiterleben der Seele und zweitens die jüngere Annahme der Individualisierung, welche Einzelne dazu ermutigt, Beiträge zur Entwicklung der Gesellschaft zu leisten – mit dem Lohn des Erinnert-Werdens. Die Unsterblichkeit im Jenseits sei hingegen als religiöse Beruhigungspille zu sehen. Unsterblichkeit biete des Weiteren, nämlich durch Vererbung, eine schwach individualisierte Hoffnung, der Betroffene könne das Gedächtnis der Nachwelt mitgestalten, in dem er Spuren hinterlässt.
Im finalen Panel („Auflösen als Bewältigung des Nachlasses“) hielt Christoph Nienhaus (Bonn) einen Vortrag zu Erbschaft als Erinnerung. Rechtsnachfolge und Testierfreiheit im Spiegel der soziologischen Theorie. Die Reflexion der eigenen Sterblichkeit und das damit verbundene Verpflichtungsgefühl, das Erbe angemessen zu regeln, stehe in Verbindung mit dem Wunsch nach der Kongruenz von Selbst- und Fremdbild. Weil es Erbschaft und daran gekoppelte Erinnerungen nicht losgelöst vom Recht gebe, würde der Tod im Spiegel der Rechtssoziologie sowohl zu einem Problem der Sterbenden wie auch der Erbenden.
Die Tagung endete mit einer Abschlussdiskussion, an der rege teilgenommen wurde. Die Ergebnisse der Veranstaltung sollen in einem Sammelband veröffentlicht werden.
Bericht zur Tagung
»Erinnerung als Objekt«
(Berlin, Januar 2020)
Welche Rolle spielen ›Erinnerungsdiamanten‹ im Trauerprozess von Hinterbliebenen, die sich dazu entschieden haben, die Kremationsasche ihres verstorbenen Angehörigen in Form einer kristallinen Preziose aufzubewahren? – Das interdisziplinäre Team aus Thorsten Benkel, Thomas Klie und Matthias Meitzler sind dieser Frage in einem Forschungsprojekt nachgegangen und haben nun ihre Einsichten in einem Buch veröffentlicht: Der Glanz des Lebens. Aschediamant und Erinnerungskörper (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2019; 240 Seiten, 20,- EUR). Am 31. Januar 2020 im wurden die Forschungsergebnisse einem sachverständigen Fachpublikum im Georgensaal des Evangelischen Kirchenforums in Berlin präsentiert.
Thorsten Benkel ging dabei zu Beginn der Frage nach, wie sich das Bild des toten Körpers durch die neuen Entwicklungen in der Bestattungskultur verändert hat, und auf gesellschaftlichen Umbrüche dies zurückgeht. Matthias Meitzler thematisierte die zentralen Forschungsfragen des Projektes und stellte die methodischen Herangehensweisen anhand der Dynamik von Befragungssituationen im Trauerkontext vor. Die Projektmitarbeiterin Leonie Schmickler trug anonymisierte Passagen aus dem Interviewmaterial vor. Und Thomas Klie fasste die wichtigsten Erkenntnisse aus der Studie zusammen: die Besonderheit des Materials (Diamant), die vorwiegend weibliche Kundschaft und ihr Bestreben, den Edelstein möglichst Tag und Nacht bei sich zu haben, die hohe Produktzufriedenheit der Diamantbesitzenden und ihr großes Selbstbewusstsein, die postmortalen Belange mit dieser sehr außergewöhnlichen Bestattungsform selbst in die Hand zu nehmen.
Die anschließende Diskussion der anwesenden Fachvertreter berührte dann schwerpunktmäßig vor allem die immer noch sehr ›paternalistischen‹ Bestattungsgesetze der Länder, die mit der aktuellen Entwicklung in der Bestattungskultur und mit den gesellschaftlichen kursierenden Wünschen nach Autonomie in der Trauer nicht im Einklang stehen.
Bericht zur Tagung
»Rituale der Transformation«
Am 5. und 6. Juli 2019 haben wir an der Universität Passau eine sozialwissenschaftliche Fachtagung zum Thema »Rituale der Transformation« veranstaltet.
Vor dem Hintergrund umfangreicher empirischer Studien, die in den vergangenen Jahren von Passau aus zum Themenkomplex Sterben, Tod und Trauer betrieben wurden, verfolgte die Tagung mit ihren insgesamt 13 Vorträgen das Ziel, wissenschaftliche und praxisorientierte Perspektiven zusammenzubringen und aktuelle Entwicklungen zu diskutieren.
Mit einem Vortrag über die performative Verwaltung von Umbrüchen in der Sozialstruktur eröffnete Thorsten Benkel (Passau) die Veranstaltung. Anhand von Beispielen aus der Forschung zeigte er auf, wie mittels spezifischer Rituale das chaotische und zerstörerische Ereignis des Todes verhandelt und bewältigt werden kann. Im Anschluss fokussierte Matthias Meitzler (Passau) mit der Temperatur eine Transformationsvariable des Todes, deren (thanato-)soziologische Bedeutsamkeit sich weit über die existenzielle Frage erstreckt, wie kalt ein toter und wie warm ein lebender Körper eigentlich sein muss.
Michaela Thönnes (Zürich) beleuchtete die strukturellen Bedingungen der Hospizarbeit im Verhältnis von Individualisierung und Institutionalisierung. Auch Niklas Barth, Katharina Mayr und Alexander Walker (München) machten die Erkenntnisse aus ihrer empirischen Forschung im Hospiz- und Palliativkontext zum Ausgangspunkt ihrer Betrachtungen. Im Spannungsfeld von individuellen und kollektiven Übergangsriten sowie starren Organisationsroutinen steht insbesondere das Narrativ vom ›guten Sterben‹ auf dem Prüfstand. Ursula Engelfried-Rave (Koblenz) stellte aktuelle Zwischenergebnisse und Aussichten aus ihrem Projekt zum Thema Trauerbegleitung am Arbeitsplatz vor. Dem Dilemma zwischen effizienter Arbeit und Mitarbeiterfürsorge stehen viele immer noch hilflos gegenüber, wobei eine nicht wahrgenommene Trauer gravierende Folgen für die Arbeitsmoral haben kann. Nico Wettmann (Gießen) nahm die Transformationsarbeit von Hebammen bei pränatalen Verlusten in den Blick. Die Schwierigkeit liegt hierbei insbesondere im Umgang mit der Krise, die die soziale Konstruktion der Elternschaft durch den »Exitus um Uterus« erleidet. In einer Fallanalyse zur Diamantpressung aus Totenasche widmete sich Thomas Klie (Rostock) der Bedeutsamkeit von Artefakten in der zeitgenössischen Sepulkralkultur.
Den zweiten Veranstaltungstag leitete Leonie Schmickler (Passau) mit einer soziologischen Auseinandersetzung mit den Grenzen der Selbstbestimmung in der Sterbehilfe ein. Nach einer Darstellung und Einordnung der vielfältigen Fallgruppen der aktiven und passiven Sterbehilfe wurde die Komplexität einer juristischen, allgemeinen Regelung eines zutiefst intimen Lebensbereichs exemplarisch aufgezeigt. Frank Thieme und Susanne Stachowitz (Bochum) thematisierten Abschiedsrituale als Widerspiegelung des sozialen Wandels, der u.a. als Pluralisierung und Säkularisierung seinen Ausdruck findet. Der Friedhof als Ort der Sozialraumanalyse, an dem sich strukturell und situativ divergierende Charakteristika ausmachen lassen, stand im Fokus des Vortrags von Constanze Petrow (Geisenheim). Den privaten Raum am Grab stellte sie dem öffentlichen Raum um das Grab herum gegenüber und beleuchtete unterschiedliche Handlungsbefugnisse und Aneignungsstrategien. Dorothea Mladenova (Leipzig) stellte ihr Dissertationsprojekt zum Wandel der Bestattungskultur in Japan vor. Im Zuge der historischen Entwicklung lassen sich verschiedene Stadien mit spezifischen Merkmalen hervorheben, derweil aktuell ein Trend zu einer individualisierten und zu Lebzeiten selbst organisierten Bestattung auszumachen ist. Im Zentrum des Vortrags von Ekkehard Knopke (Weimar) standen ethnografische Erkundungen auf Bestattungsmessen. Eine »Eventisierung« sei hierbei insofern zu konstatieren, als die Messen als Agenda-Setter für das Thema Tod und Sterben fungieren und ein attraktives Image für das Sujet und die Beteiligten zu etablieren versuchen.
Mit einem visuellen Streifzug durch das thanatologische Unterholz rundeten Thorsten Benkel und Matthias Meitzler die Tagung ab. Anhand von kommentierten Bildmaterial gewährten sie dem Publikum nähere Einblicke in ihre empirischen Forschungsarbeiten und zeichneten die soziologische Relevanz von solchen Bereichen wie z.B. öffentliche Trauerplätze oder Pathologie-Abteilungen in Krankenhäusern nach. Neben dem produktiven und tragfähigen Diskurs zwischen Theorie, Methodologie und Praxis, der die Vielfalt und Breite der Thematik signalisierte, machte die Tagung auch die Notwendigkeit weiterer intensiver Vernetzung und Forschung deutlich, damit insbesondere die Fragen nach der Einordnung von digitalen Entwicklungen und der Einbeziehung der Materialität am Lebensende bearbeitet werden können.
Bericht zur Tagung
»Körper – Wissen – Tod«
Am 25. und 26. Mai 2018 veranstalteten wir in Zusammenarbeit mit der Sektion Wissenssoziologie der Deutschen Gesellschaft für Soziologie an der Universität Passau eine sozialwissenschaftliche Fachtagung zu dem Thema »Körper – Wissen – Tod«.
Die zahlreich besuchte Veranstaltung adressierte sowohl VertreterInnen aus Wissenschaft und Praxis als auch interessierte BesucherInnen und Studierende. Ziel war es, wissenschaftliche Perspektiven auf gesellschaftliche Fragen zum Lebensende zu entwerfen. Die insgesamt 16 Vorträge wurden von regem Austausch und kontroversen Debatten begleitet.
Den Anfang machte Thorsten Benkel (Passau), der sich der Thematik unter wissenssoziologischen Vorzeichen annäherte. Mit besonderem Fokus auf Körperlichkeit sowie u.a. am Beispiel des vergessenen Klassikers Max Scheler versuchte Benkel zu zeigen, dass das, was Tod genannt wird, immerzu das Produkt einer spezifischen Wissensformation ist. Anschließend fokussierte Werner Schneider (Augsburg) Sterben als sozialen Prozess und entwarf eine dispositivanalytische Perspektive auf das Lebensende. Dabei beleuchtete er das »gute Sterben« als ein Projekt nicht nur für den Sterbenden selbst, sondern auch für die Angehörigen.
Den Tod als »Problem der Lebenden« thematisierte auch Matthias Meitzler (Passau) anhand des sozialen Wandels im Umgang mit Sterbenden und der Tabuisierung des Todes. Den Ausgangspunkt bildeten Norbert Elias‘ Betrachtungen über die »Einsamkeit der Sterbenden in unseren Tagen«, die Meitzler vor dem Hintergrund eigener Forschungen auf ihre empirische Aktualität hin überprüfte. Zsofia Schnelbach (Passau) gab Einblicke in ihre Forschungen zur Symbolkraft des kindlichen Körpers bei stiller Geburt. Hierzu führte sie Interviews mit Eltern, deren Kind tot zur Welt gekommen ist und die somit einer Paradoxie von Begrüßung und Abschied ausgesetzt sind. Patrick Reitinger (Bamberg) führte die Thematik der Schwangerschaft in seinem Vortag zur Verräumlichung von Körperlichkeit weiter fort und zeichnete den Konflikt zwischen Materialität bzw. Körperlichkeit und einem juristischen Lebenskonstrukt nach. Anhand aufschlussreicher Studien zur Transmortalität veranschaulichte Hubert Knoblauch (Berlin) u.a, dass zwischen Anspruch und Wirklichkeit des Organspendeausweises eine Lücke klafft, die von institutionellen Stellen bislang allerdings unzureichend berücksichtigt wird.
Der zweite Veranstaltungstag wurde von Ulrike Wohler (Hannover) eröffnet. In ihrem Vortrag beschäftigte sie sich mit der gewandelten Sichtweise auf die Vergänglichkeit des Lebens. Während besonders im Mittelalter das Vanitas-Motiv öffentlich über alle Stände hinweg bewusst verhandelt wurde, sehen wir den Tod heute vermehrt als ein Tabuthema. Mit einem empirischen Ansatz beleuchtete Ursula Engelfried-Rave (Koblenz) die Bedeutung von Trauer-Tattoos. Die Haut fungiere dabei als ein Ort der Trauer, der Trauernde ständig begleite und eine Alternative zu herkömmlichen Trauerorten sein könne. Ekkehard Knopke (Weimar) demonstrierte anhand eines ethnografischen Projekts im professionellen Bestattungskontext, auf welchen Wegen Geschlechtlichkeit in diesem Setting kommunikativ konstruiert wird. Auch Katharina Mayr und Niklas Barth (München) stellten die Kommunikation in den Mittelpunkt ihrer Untersuchungen zum bewussten Sterben in der multiprofessionellen Sterbebegleitung. Dem »Schlamassel des Sterbens«, wonach Sterbende die ihnen zugewiesene Rolle zurückweisen, wurde eine ideale Vorstellung vom »guten Sterben« entgegengesetzt, die kommunikativ verhandelt und insbesondere in der Adressierung der Sterbenden durch professionelle Akteure sichtbar werde.
Lea Sophia Lehner (Passau) nutzte in ihrem Vortrag die elementaren Begriffe Feld, Kapital und Habitus von Pierre Bourdieu, um auf die Ursachen für Selbsttötung in unserer Gesellschaft einzugehen. Der Vortrag von Miriam Sitter (Hildesheim) widmete sich der Bedeutung von himmlischen Sinnbildern im Kontext tröstlicher Kinderliteratur bei der Trauerbegleitung für Kinder. Isabelle Bosbach (Bochum) ordnete in ihren Ausführungen zur Kryonik, eine Konservierungsmethode durch Einfrierung, den Tod als Phase des Lebens ein und definierte ihn dadurch als Prozess, nicht als Zustand. In ihrem Vortrag zu Sterbekonstruktionen im Vermittlungskontext legte Melanie Pierburg (Hildesheim) dar, wie der sinnbildliche »Akt des Loslassens« als Metapher für das Sterben im Hospiz verhandelt und dadurch zu einem erfahrbaren Gegenstand gemacht wird.
Der Berliner Fotograf Patrik Budenz (Berlin) führte mit einer Bildauswahl in die Thematik der Rechtsmedizin und Leichenauffindungssituationen ein. Entlang der Grenzen von Nähe und Distanz lieferte er den ZuschauerInnen ein »ästhetisches Angebot« und lud im Zwiegespräch mit Thorsten Benkel dazu ein, sich des Komplexes Fotografie und Tod im Lichte je eigener Bilddeutungen zu öffnen. Den Abschluss der Tagung bildete der Vortrag von Ronald Hitzler (Dortmund), welcher sich mit einer Analyse der Empfindung, Erläuterung, Reflexion, Kundgabe und Deutung von Trauer beschäftigte und dabei aufzeigte, wie sich Trauergefühle im Kontrast zwischen subjektiven und kollektiven Empfindungen äußern.
Die Vielfalt der Zugänge, Methoden und Erkenntnisse, die im Rahmen der Tagung vorgestellt und lebhaft diskutiert wurden, hat zweifellos deutlich gemacht, dass die Forschung zum Lebensende mehr denn ein fruchtbares Sujet ist, das zahlreiche Chancen zur inner- und interdisziplinären Vernetzung bereithält und künftig über seine randständige Position innerhalb des sozialwissenschaftlichen Diskurses hinaus an Bedeutung zu gewinnen verspricht. Die einzelnen Vorträge sollen in einem Tagungsband dokumentiert werden, der voraussichtlich 2020 erscheint.