Wie gesellschaftlich damit umgegangen wird, dass alle Menschen sterben müssen, lässt sich längst nicht mehr verbindlich bestimmen, nicht einmal mehr innerhalb einer spezifischen Region oder Kultur. Diese Transformationsprozesse machen wissenschaftliche Nachforschungen lohnenswert – auch und gerade aus sozialwissenschaftlicher Perspektive. Von einer »Thanatosoziologie«, einer Soziologie des Todes, ist ungefähr seit den 1960er Jahren die Rede. Seither hat es eine Reihe beeindruckender Studien zum Themenkomplex Tod und Sterben in der Gegenwartsgesellschaft gegeben, von kulturhistorischen Untersuchungen ganz zu schweigen. Ihre vergleichsweise geringe Anzahl wird der sozialen Relevanz des Themas jedoch nicht gerecht. Zu den Prozeduren der Todesverwaltung und den Ritualen des Abschiednehmens fehlt es bislang insbesondere an empirischem Untersuchungsmaterial.
Vor dem größeren Hintergrund der Fragestellung, wie die Gesellschaft mit Sterblichkeit umgeht, betreiben Dr. Thorsten Benkel und Matthias Meitzler, M.A. (beide Universität Passau ) seit 2011 empirische Sozialforschung in verschiedenen »Todeskontexten«. Dazu gehören Untersuchungen »vor Ort« im gesamten deutschsprachigen Raum: auf Friedhöfen, in Hospizen, Krankenhäusern, Obduktionssräumen, Krematorien, im kirchlichen Kontext, bei Fachtagungen und Messen. Hinzu kommen Interviews mit Bestattern, Experten für alternativen Beisetzungsformen, Kunsthistorikern, Steinmetzen, Medizinern, Verwaltungsangestellten und Theologen, sowie Archivrecherchen, Dokumentationsarbeit und Feldforschung. Besonderes Gewicht nimmt dabei die Frage ein, inwiefern Randbereiche des Alltagslebens wie die Bestattungskultur vom sozialen Wandel und insbesondere vom Individualisierungstrend berührt werden. In diesem Zusammenhang erschien als erste Buchpublikation 2012 der Band »Die Verwaltung des Todes«, der eine sozialtheoretische Grundlegung der empirischen Forschungsarbeit liefert.
Die zweite Buchpublikation ist 2013 unter dem Titel »Sinnbilder und Abschiedsgesten« erschienen und dokumentiert Zwischenergebnisse sowie Bildmaterial, das im Sinne der visuellen Wissenssoziologie in die theoretische Auseinandersetzung eingeflochten ist.
Als drittes Buch erschien 2014 »Gestatten Sie, dass ich liegen bleibe«, ein Bildband, der ungewöhnliche und abweichende Grabformen versammelt, die von uns erklärt und kommentiert werden – mal aus sozialwissenschaftlicher Sicht, mal mit einem Augenzwinkern (und manchmal mit beidem).
Ein Fortsetzung zu diesem Band ist - im gleichen Stil, mit einen neuen Auswahl - zwei Jahre später unter dem Titel »Game over« erschienen.
Der Sammelband »Die Zukunft des Todes« (2016) trägt aus interdisziplinärer Perspektive aktuelle Befunde zu Sterben Tod und Trauer zusammen und
reflektiert dabei auch neueste gesellschaftliche Entwicklungen wie z.B. Internet, Mensch-Tier-Verhältnis, ambulantes Hospiz und vieles mehr.
Ein weiteres Buch mit dem Titel »Zwischen Leben und Tod« wurde 2018 vorgelegt und versammelt Studien zu den gesellschaftlichen, kulturellen, rechtlichen, medialen, religiösen, ethischen und medizinischen Aspekten des Spannungsverhältnisses von Existenz und Nichtexistenz.
In unserer Monografie zur »Autonomie der Trauer« (2019) thematisieren wir den zeitgenössischen Wandel der Trauerkultur und gehen dabei unter anderem folgenden Fragen nach: Was bedeutet Trauer in heutigen Tagen? Gefühl, Handlung, gesellschaftliche Verpflichtung? Braucht Trauer einen festen Ort? Welche Rituale sind wichtig – und wann hören sie auf, bedeutsam zu sein? Wie erforscht man dieses Phänomen überhaupt? Und auf welche Weise werden gesetzliche Vorgaben in der Bestattungskultur mittlerweile umgangen?
Die im selben Jahr erschienene Publikation »Der Glanz des Lebens« widmet sich einem neuen Phänomen innerhalb der Bestattungskultur. Mittlerweile gibt es die Möglichkeit, aus der Kremationsasche eines Verstorbenen Schmucksteine herstellen zu lassen. Welche Rolle spielen diese Juwele im Trauerprozess? Wie gehen Angehörige mit ihnen um? Wie reagiert das soziale Umfeld auf diese Metamorphose? Inwiefern wird hier die Idee der Reliquie erneuert? Das Buch basiert auf Interviews mit Personen, die sich für diese Form des Totengedenkens entschieden haben. Ende 2020 erschien eine englische Übersetzung des Werkes unter dem Titel »Enchantment«.
Der 2021 publizierte Sammelband »Wissenssoziologie des Todes« befasst sich mit dem (Nicht-Wissen) über Sterben, Tod und Trauer und dem daraus resultierenden Problem für Wissenschaft und Praxis, mit einem Phänomen umzugehen, das ständig im Wandel steht. Thematisiert werden u.a. Hospiz, Sterbehilfe, Suizid, Organspende, Geschlecht, Trauertattoos und Fotografie.
Bis heute haben wir über 100 thematisch einschlägige Vorträge im In- und Ausland gehalten, über 70 größere und kleinere Artikel in wissenschaftlichen Publikationen und in Fachzeitschriften veröffentlicht und Begutachtungen für verschiedene Berufsverbände und staatliche Institutionen verfasst. Wir waren als Gutachter für Einrichtungen wie das Bundesministerium für Bildung und Forschung und als Sachverständige bei Gesetzgebungsverfahren tätig. Unsere Forschungsprojekte sind auf umfangreiches Medieninteresse gestoßen (bislang über 330 nationale und internationale Berichte in TV, Rundfunk, Print und online).
Zu den bekanntesten Erscheinungsformen des oben erwähnten Transformationsprozesses zählen – neben der bereits weitgehend etablierten Kremation – Naturbestattungen, kostengünstigste Reihengräber und anonyme Beerdigungen. In diesen Optionen schlagen sich zunehmend pragmatische und ökonomische Erwägungen nieder. Ergänzend zu diesen Entwicklungen firmieren als besonders eindrucksvolle Beispiele für den sozialen Wandel die Gestaltungen von Friedhofsanlagen und individuellen Grabstätten. Veränderte Verständnisse und Sinnkonstruktionen bezüglich Abschiednahme, Trauer, Jenseitsglaube, Unumkehrbarkeit des Todes und vieles mehr werden hier zunehmend nicht mehr durch den Rückgriff auf bereits vorhandenes Symbolrepertoire dargestellt, sondern mit Referenz auf die je betroffene einzigartige Lebenswelt ausbuchstabiert. Fotografien zeigen Verstorbene in ihrer Lebendigkeit, Alltagskontexte treten in Erscheinung, Verweise auf Hobbys, Vereinszugehörigkeiten, persönliche Ansichten und Lebensphilosophien werden bekundet und auch intime Mitteilungen lassen sich finden. Besonders deutlich wird die Verbindung zur Lebenswelt durch das Ablegen von Alltagsgegenständen, die die Verstorbenen zeitlebens verwendet haben, wie etwa Zahnbürste, Rasierer, Sportgeräte und sogar Musikinstrumente. Selbst Nahrungsmittel und Kleidungsstücke finden mittlerweile an Grabstätten Platz.
Von Interesse sind darüber hinaus (und doch eng damit verbunden) die Repräsentationen von Körperlichkeit, die in derzeitgenössischen Bestattungskultur eine Renaissance finden. Neben den toten Körper treten immer häufiger Sichtbarmachungen vergangener Lebendigkeit, die eigenwillige soziale Funktionen ausüben. Auch diese Tendenz lässt sich mit Individualisierungstrends und der »Existenzbastelei« persönlicher Biografien in Verbindung bringen. Damit wiederum gehen spezifische Varianten des Erinnerungsmanagements einher; denn auch die Erinnerungskultur befindet sich in einem tiefgreifenden Wandel, der nicht zuletzt auch durch das Internet forciert wird.